Warum Sie ein Kompliment besser annehmen lernen sollten
„Großartig siehst Du aus!“ Der unverhohlen bewundernde Blick des Jugendfreundes scheint Claudia’s Erscheinung fast zu streicheln. Er wandert von der elastisch-aufrechten Haltung über das gepflegte, durch Erfahrungslinien interessant gewordene Gesicht bis zur Kleidung und bleibt schließlich dort hängen. „So eine geschmackvolle, elegant angezogene Frau habe ich lange nicht mehr ausführen dürfen.“ Christian weiß, was er sagt – immerhin ist er seit vielen Jahren Supermanager in einem Großkonzern und hat internationalen Vergleich: Außerhalb von Deutschland trifft er nämlich oft auf Frauen im Business, die ihm auf gleicher Ebene begegnen, Frauen mit einer entspannten Eleganz, die an ihrer weiblichen Stärke keinen Zweifel lässt.
Und Claudia? Die kann im Moment der Begegnung, dreißig Jahre nach dem Abitur, mit diesem Kompliment so gar nicht umgehen. Auch ihre sehenswerte Karriere und das daraus gewachsene Selbstbewusstsein können nicht verhindern, dass sie auf das Kompliment mit der deutschesten aller Reaktionen antwortet: „Ach, das Kostüm habe ich doch schon länger …“ Ersatzweise könnte sie auch sagen: „Das ist doch nur eines meiner Standardkostüme.“ Oder: „Das habe ich im Ausverkauf erworben.“
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In Deutschland ist es nämlich nicht chic, sich für andere chic zu machen. Qué mal – wie traurig! Christian nämlich bekommt in diesem Moment eine Art „kalte Dusche“ von Claudia verpasst. Sie antwortet vor dem Hintergrund ihrer Mädchenerziehung im Deutschland der Sechziger/ Siebziger Jahre, in der Bescheidenheit als Zier gehandelt wurde. Heute aber, im Ambiente eines Business Clubs mit dicken Teppichen und livriertem Personal, wirkt ihre Antwort nahezu unhöflich. Denn tatsächlich sagt ihre Antwort doch aus: „Ich habe mich nicht besonders zurecht gemacht“ (was allerdings nicht den Tatsachen entspricht, denn sie hat lange überlegt, was sie anziehen will) und nimmt dem Wiedersehen nach so langer Zeit – zumindest verbal – die verdiente Bedeutung.
„Eitelkeit ist seit dem Biedermeier etwas Frivoles“, konstatiert auch Modeschöpfer Wolfgang Joop im Sky talk einer Ausgabe des Lufthansa-Magazins (10.2012) und bringt damit das Phänomen auf den Punkt. „In Japan“, berichtet er weiter, „hat Mode auch einen anderen Stellenwert als bei uns und wird als hohe Kunst am Körper angesehen. In Deutschland gilt Mode dagegen als etwas Vermeidbares … als sei es lobenswert, sich nicht zurecht gemacht zu haben.“
Nicht nur in Japan entfaltet diese Kunst am Körper eine andere Wirkung als gerade bei uns: Auch in Italien oder vielen anderen Ländern unterliegen schöne Dinge, stilvolle Kleidung oder auch schicke Autos weniger dem Neidgedanken als der Erkenntnis: Es ist einfach schön!
Es ist schön, sich gut zu kleiden. Es ist schön, von anderen für Stil und Eleganz bewundert zu werden. Es ist schön, sich vom Statusdenken unabhängig zu machen. Denn Auge und Seele genießen Schönes.
Noch dazu ist das biedermeierliche Herunterspielen auch nicht, was wir von Frauen mit Selbstwert, die im Geschäftsleben ihren Mann stehen, erwarten.
Im Interesse der Höflichkeit gegenüber Jugend- und sonstigen Freunden und im Interesse der Schönheit im Alltag dürfen wir unsere Erziehung und unsere Glaubenssätze also ruhig auch einmal hinterfragen: Ist Eitelkeit wirklich etwas Schlechtes? Christian zum Beispiel hätte sicher nichts dagegen gehabt, wenn Claudia ihm mit einem strahlenden Lächeln, das Freude über das Kompliment verrät, geantwortet hätte, dass dieser Abend auch für sie etwas Besonderes – und ein sorgfältig gewähltes Outfit wert ist!
Foto: Michael Holfelder